FK_Journ_2_22

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INHALT UMFRAGE In diesem Journal THEMA GEWOHNHEITEN & RITUALE 4 Was steckt hinter dem Ritual? Interview mit Ralf Vietze 7 8 Pierre Stutz – Entdecker der Rituale für die Seele Lebensmomente: Freundeskreisler/innen über ihre Gewohnheiten und Rituale 10 Es darf nicht langweilig werden! Im Gespräch mit Lutz Stahl 12 Material für die Gruppenarbeit: Blitzlicht 14 Hirnforschung: Der schmale Grat zwischen Gewohnheit und Sucht AUS DEM BUNDESVERBAND 17 Bundestreffen 2023 in Baunatal 17 Neues Projekt: „Verklicker“-Filme 18 Treffen der Operatoren des 19 Ausbildung zur Gruppenbegleitung 19 Box mit Praxisanregungen versandt Freundeskreis-Chats KURZ & BÜNDIG 20 Jahrbuch Sucht 20 Cannabis-Freigabe kommt 20 Guttempler haben „SoberGuides“ 20 Videoreihe: „Ich finde meinen Weg“ 21 Sexsucht ist Krankheit PORTRÄT 22 Jürgen Fischer: „Ich wollte leben“ MEDIEN 23 Buchtipps RÄTSEL 24 Nicht alles ist, wie es scheint Was fällt mir zum THEMA Zu jedem Don- nerstag gehört für mich eine feste Gewohnheit: Von 19 bis 21 Uhr begleite ich den Chat der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe. Alles, was um diesen Termin drumher- um liegt, wird so geplant, dass für den Chat immer Zeit ist. Das ist mir sehr wichtig – also eine Gewohnheit, auf die ich achtgebe. Ansonsten: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier! Viele Dinge gehen in Gewohnheiten über. Schwie- rig ist es, aus Gewohnheiten herauszu- brechen und sie zu ändern. Das wäre dann eine Herausforderung. Béatrice Schober, stellvertretende Vorsitzende Bundesverband Gewohnheiten bedeuten für mich Sicherheit und Routine. Mit dem Wissen, dass sich in gewöhnlichen Le- bensbereichen keine Änderungen ergeben, kann ich Neuem aufgeschlossener gegenübertreten, ohne dass ich meine Balance verliere. Und für mich Neues kann dann sogar zu einer guten Gewohnheit werden. Elisabeth Stege, stellvertretende Vorsitzende Bundesverband 2 2/2022 | FreundeskreisJournal

as fällt mir zum THEMA GEWOHNHEITEN ein? Während sich vermeintlich schlechte Gewohn- heiten manchmal unbewusst in meinen Alltag einschleichen, muss ich gute Gewohnheiten meist aktiv etablieren. Ich finde das häufig anstregend, freue mich jedoch um so mehr, wenn ich feststelle, dass es die Mühe wert ist. Sina Limpert, Suchtreferentin Bundesverband IMPRESSUM Wo finde ich den nächsten Freundeskreis? Herausgeber: Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe – Bundesverband e. V., Selbsthilfeorganisation, Untere Königsstr. 86, 34117 Kassel, Tel. 0561 780413, Fax 711282, mail@freundeskreise-sucht.de, www.freundeskreise-sucht.de Mitgliedschaften: Diakonie Hessen – Diakonisches Werk in Hessen und Nas- sau und Kurhessen-Waldeck e. V., Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. Redaktion: Sina Limpert, Lothar Simmank, Elisabeth Stege Verantwortlich i.S.d.P.: Andreas Bosch, Vorsitzender Layout: Redbüro Kassel, www.redbuero.de Fotos: Freundeskreise, privat (wenn nicht anders angegeben) Herstellung und Vertrieb: Bonifatius GmbH Druck, Paderborn Auflage: 7.100 Exemplare Für Mitglieder über den jeweiligen Freundeskreis kostenlos. Falls Sie unsere Arbeit f inanziell unterstützen möchten: Spendenkonto bei der Evangelischen Bank eG, IBAN DE75 5206 0410 0000 0019 53, BIC GENODEF1EK1 Wir möchten mit dieser Zeitschrift gleichermaßen alle Geschlechter (w, m, d) ansprechen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text jedoch mitunter die männliche Form verwendet. EDITORIAL Liebe Leserinnen, liebe Leser, vielen Dank für die positiven Rückmeldungen zum runder- neuerten Freundeskreis Journal. Wenn man Gewohntes ändert, sei es im Erscheinungsbild oder in der redaktionellen Bearbei- tung, besteht immer das Risiko, dass die gewünschte Verände- rung nicht den erhofften Zu- spruch findet. Aber ohne Veränderung gibt es überhaupt keine Neuerungen. Von daher sind wir froh über die positive Resonanz. Damit sind wir auch schon beim Thema dieser Ausgabe: Wir wollen uns mit Gewohnheiten und Ritualen ausein- andersetzen, innerhalb und außerhalb der Freundeskrei- se für Suchtkrankenhilfe. Man spricht ja üblicherweise davon, dass der Mensch ein Gewohnheitstier sei. In den Gruppen kennt man es nicht anders: Es ist jemand da, der den Raum aufschließt, sich der Gruppenbegleitung annimmt oder der die Freizeitaktivitäten der Gruppe or- ganisiert. Mancherorts ist es beim Treffen üblich, dass jedes Gruppenmitglied auf seinem angestammten Platz sitzt – dumm nur für jemanden, der neu in die Gruppe kommt und davon nichts weiß. Gewohnheiten sind nichts Schlechtes, sie machen das Leben in vielen Dingen einfacher. Man weiß, wie man sich zu verhalten hat und was von einem erwartet wird. Wenn das Leben allerdings nur noch aus Gewohnhei- ten besteht, fängt es an kritisch zu werden. Letztendlich gibt man die Gestaltungsmöglichkeiten und die Verant- wortung für sein Leben an die Gewohnheiten ab. Wir alle sind im Leben schon mit Ritualen religiöser oder weltlicher Art in Berührung gekommen – man denke an Taufen und Begräbnisse, Begrüßungen oder den Fahneneid bei der Bundeswehr. Rituale fördern den Gruppenzusammenhalt, vermitteln Halt und Ori- entierung. Rituale können aber auch der Ausgrenzung dienen, wenn sie nur von Eingeweihten verstanden und praktiziert werden. Und sie können auch ambivalent oder falsch gedeutet werden. Nachdenklich sollte man werden, wenn Ritualen mehr Bedeutung zugestanden wird als der eigentlichen Aufgabe, der sich die Gemein- schaft verschrieben hat. Zum Abschluss wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen vom neuen Freundeskreis Journal. Andreas Bosch Vorsitzender des Bundesverbands der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe e.V. 3

? Was sollte Ihrer Ansicht nach, idealerweise bei einem Grup- pentreffen passieren? Ralf Vietze: Pauschal kann ich das nicht so einfach beantworten. In der Regel treffen sich Selbsthil- fegruppen ja regelmäßig zu einem fest vereinbarten Termin – über- wiegend in neutraler Umgebung. Während der Corona-Pandemie liefen viele Treffen online ab, oder man traf sich zu einem Spa- ziergang. Meine Erfahrung: On- line-Treffen sind für mich weniger intensiv, es gibt viele Ablenkun- gen. Dagegen sind Präsenztreffen mit einem routinierten Ablauf sehr hilfreich. Jede Selbsthilfegruppe hat ihre eigenen Strukturen und Vorge- hensweisen. Für mich sollte ein ideales Gruppentreffen so ablau- fen: die Teilnehmenden der Grup- penstunde sind pünktlich, die Teilnahme ist verbindlich. Ist man verhindert, wird die Gruppenbe- 2. DER HAUPTTEIL. Aus den ge- sammelten Themen/Problemen ergibt sich meist genügend Ge- sprächsstoff. Auch ein kurzes Zwi- schenblitzlicht kann ein gutes Mit- tel sein, um Störungen ans Licht zu bringen, wenn der Ablauf ins Sto- cken kommt, vom Thema abgewi- chen wird oder langes Schweigen entsteht. 3. DIE SCHLUSSRUNDE. In einer kurzen Feedbackrunde (Abschluss- blitzlicht) haben alle Teilnehmen- den die Gelegenheit, Rückmeldung zu geben. Inhalt: Wie ist es mir heute ergangen? Was ich eigent- lich noch sagen wollte ... Meiner Erfahrung nach fällt es schwer, ein Schlussblitzlicht einzuhalten – die Ersten wollen früher gehen, oder Themen waren so spannend, dass die Gruppe kein Ende findet. Es ist aber wichtig, dass Verärgerung und Frustration ein Feedback ein Ventil erhalten, damit niemand unzufrieden nach Hause geht. GEWOHNHEITEN & RITUALE jederzeit den Raum verlassen zu können, dazu. Ebenso wie ein res- pektvoller Umgang, einander aus- sprechen zu lassen und Gesagtes stehen lassen zu können, mitein- ander und nicht übereinander zu reden und gegenseitige Wertschät- zung. ? Deckt sich dieser Anspruch mit der Wirklichkeit? Wie erleben Sie Ihre Freundes- kreis-Gruppe? Vietze: Wie so oft klaffen An- spruch und Wirklichkeit ausein- ander. Es gibt gute und sehr gute Gruppenstunden, in denen ein reger Austausch zu interessanten Themen, bzw. Anliegen von Grup- penmitgliedern stattfindet. Genau- so gibt es aber auch Gruppenaben- de, an denen nur ein schleppender Dialog, manchmal auch ein Mono- log den Abend bestimmt. Es hängt von der Tagesform ab, wie sich die Gruppenteilnehmenden ein- „Stimmen die Gewohnheiten oder Rituale mit den Werten und Zielen der Selbsthilfe- gruppe überein, wirken sie entspannend und festigend. Wenn nicht, rauben sie der Gruppe Zeit und Energie und schaden den Teilnehmenden oder nerven sie.“ Ralf Vietze gleitung informiert. Spekulation über das Fernbleiben gibt es so nicht. Der Ablauf findet dann in drei Phasen statt: 1. DIE EINGANGSRUNDE (das sogenannte Blitzlicht). Hier kom- men die Gruppenmitglieder kurz zu Wort, möglichst ohne Nachfra- gen der anderen, aber auch ohne Zwang, etwas sagen zu müssen. In- halt: Wie geht es mir? Wie fühle ich mich? Sind Themen/Probleme vom letzten Mal offen? Gib es Dinge, die unbedingt heute besprochen wer- den sollten? Wenn neue Mitglieder da sind, ist es wichtig, dass sich die einzelnen Gruppenmitglieder mit Namen vorstellen. Dann gibt es FORMALIEN, die zum idealem Gruppentreffen dazu- gehören. Ein Treffen sollte nie län- ger als zwei Stunden dauern, weil die Konzentration in den Abend- stunden nachlässt. Die Gruppen- größe sollte idealerweise nicht mehr als zwölf Personen betragen. Eine Möglichkeit mit einem zu- sätzlichen Raum für Kleingruppen oder Einzelgespräche sollte vor- handen sein. Weiter gehören auch die allgemeinen Gruppen- und Ge- sprächsregeln wie Freiwilligkeit, Verbindlichkeit, Verschwiegenheit, Selbstverantwortung, Geben und Nehmen, Bereitschaft für Kon- fliktlösungen und die Möglichkeit, bringen. Erst wenn Anspruch und Wirklichkeit nah beieinanderlie- gen, empfinde ich Zufriedenheit. ? Überall, wo sich Menschen über einen längeren Zeitraum regelmäßig treffen, schlei- chen sich Gewohnheiten und Ri- tuale ein. Was davon beobachten Sie bei den Freundeskreisen? Vietze: Man sollte zwischen Ge- wohnheit und Ritual unterschei- den. Für mich ist ein Ritual, unab- hängig davon, ob man es alleine oder im Kreis ausführt, eher wie eine Zeremonie. Da gibt es genaue Abläufe, die man dann auch strikt einhält. Zum Beispiel: Du ziehst dir FreundeskreisJournal | 2/2022 5

INTERVIEW vor einem wichtigen Fußballspiel deine Lieblingssocke an, es soll Glück bringen. Bei einer Gewohn- heit kann es sich auch um Kleinig- keiten handeln, wie zum Beispiel beim Niesen die Hand vor die Nase zu halten oder die Zähne zu putzen. Aber auch das Popeln in der Nase im Auto vor einer roten Ampel ist eine Gewohnheit. Es sind unbe- wusste und automatisierte Verhal- tens- oder Bewegungsmuster, die wir ohne nachzudenken tun. Auch in den Freundeskreisen gibt es Gewohnheiten und Rituale die gut sind. Aber auch schlechte, die sich auf den Verlauf einer Grup- penstunde negativ auswirken kön- nen. Einige Beispiele: Ein häufiges Ritual in den Freun- deskreisen ist das Umarmen bei der Begrüßung oder Verabschie- dung. Auch eine von mir beobach- tete – und ich muss zugeben von mir auch hin und wieder selbst praktizierte Gewohnheit – ist, dass man sich zu Beginn der Gruppen- stunde immer an den gleichen Platz (Stammplatz) setzt. Was auch sehr stört, ist dass „pünktliche“ Zu- spätkommen zur Gruppenstunde. Für mich ein No-Go. Eine stören- de Gewohnheit ist das Öffnen mit- gebrachter Süßigkeiten – zum Bei- spiel Knistern oder Rascheln von Schokoladenpapier. Ganz groß im Trend der Ge- wohnheiten steht das obligato- rische Eisessen. Nicht nur in der örtlichen Gruppe, auch auf Lan- des- und Bundesebene der Freun- deskreise ist der Besuch einer Eis- diele immer ein aktuelles Thema. Man sollte sich der Gewohnheiten und Rituale bewusst werden. Denn davon hängen unter Umständen Erfolg, Glück und Wohlbefinden in der Selbsthilfe ab. ? Wie bewerten Sie diese Gewohnheiten und Rituale – positiv oder negativ? Vietze: Ob die aufgeführten Beispiele von Gewohnheiten oder Ritualen positiv oder negativ sind, kann ich nur schwer beurteilen. Grundsätzlich habe ich folgendes festgestellt: Stimmen die Gewohn- heiten oder Rituale mit den Zielen 6 der Selbsthilfegruppen überein, wirken sich diese entspannend und festigend auf das System aus. Stimmen die Gewohnheiten oder die Rituale aber nicht mit den Wer- ten und Zielen der Gruppe überein, rauben sie der Gruppe Zeit und Energie und schaden oder nerven somit die Gruppe bzw. einzelne Teilnehmende. ? Selbsthilfe ist kein Selbst- zweck – es geht letztlich nicht um eine nette Freizeitbeschäf- tigung für mich selbst, sondern um Hilfe für mich und andere. Ist dieses Bewusstsein in den Gruppen vorhanden? Vietze: Für mich bedeutet Selbst- hilfe, sich mit Betroffenen und Angehörigen auszutauschen und sich gegenseitig bei Sucht- und Alltagsproblemen weiterzuhelfen. Sie sollte alle Unterstützung, Bera- tung und eine starke Stimme nach außen bieten. Selbsthilfe bedeu- tet nicht immer „Hilf dir selbst!“, sondern kann auch bedeuten: Wir für mich. – Selbsthilfe macht mich stark. Aus meinen Wahrnehmun- gen sowie Berichten von Selbsthil- fegruppen, mit denen ich in Kon- takt stehe, kann ich behaupten, dass dieses Bewusstsein im Gro- ßen und Ganzen gelebt wird. ? Der Besuch einer Eisdiele vor, nach oder anstatt eines Freun- deskreis-Meetings gehört für viele unbedingt dazu, manchmal hat das sogar Priorität. Wie sehen Sie dieses Ritual? Vietze: Das ist ein Phänomen, das ich schon längere Zeit in den Freundeskreisen beobachte. Na- türlich mag es Gruppen geben, in denen dieses eingefahrene Ritual die Gruppenstunden beeinflusst oder gar ganz ausfällen lässt. Bei- spiele: Da hat das Seminar noch nicht richtig begonnen, und es wird schon die Frage gestellt, ob man an diesem Abend die Eisdiele reservieren solle. Oder wenn es in der Klinikvorstellung nicht läuft, beenden wir sie und gehen lie- ber Eis essen. Oder wir haben kei- nen Gruppenraum zur Verfügung, dann gehen wir in die Eisdiele. Oder vor beziehungsweise nach Präventionen und Veranstaltun- gen ... Man könnte diese Beispiele beliebig fortsetzen. Ich frage mich, was steckt hinter diesem Ritual? Sicherlich geht es beim Eises- sen auch um Wohlfühlen, Spaß und Genießen. Nebenbei besteht aber auch die Möglichkeit des entspannten Austauschs mit an- deren, mit denen man in der „nor- malen“ Gruppestunde so nicht ins Gespräch gekommen wäre. Ich persönlich sehe in diesem Ri- tual nichts Negatives, solange es als schöne Nebenbegleitung und nicht als Hauptgrund oder Attrak- tion gesehen wird. Vietze: kranke ein Kneipenersatz? ? Ist die Eisdiele für viele Sucht- In der Abstinenz steigen die Gelüste auf Süßigkei- ten. Sie wirken belohnend – und daher würde ich den Besuch einer Eisdiele als Ersatz für den Knei- penbesuch sehen. In einer Eisdiele ist der Genuss von Alkohol nicht das Vorherrschende und die Gäs- te sind eine andere Klientel als in einer Kneipe. In eine Eisdiele oder ein Café zu gehen, hat etwas Nor- males an sich. Der „Rückfall“ in alte Gewohnheiten und der Genuss von Eis, beides könnte Suchtverla- gerung sein, eventuell auch ein Rückfall in alte Verhaltensmuster. Es ist wie immer: Als süchtige Per- son muss man darauf achten, nicht wieder in alte Muster zurückzufal- len. ? Bei anderen Sucht-Selbsthil- fegruppen – denken wir an AA-Gruppen – stehen Rituale möglicherweise höher im Kurs als bei den Freundeskreisen. Was halten Sie davon? Vietze: Die Menschen sind un- terschiedlich. Jemand, der feste Rituale in seiner Abstinenz benö- tigt, wird sich in einer Gruppe, die ihm solche Rituale bietet, wohler fühlen. Letztlich ist es egal, welche Suchtselbsthilfegruppe besucht wird, solange die persönlichen Zie- le erreicht werden können. Fragen: Lothar Simmank 2/2022 | FreundeskreisJournal

GEWOHNHEITEN & RITUALE Entdecker der Rituale für die Seele Kann es etwas Schlimme- Theologe und Buchautor Pierre Stutz res geben, als dass wir uns in unserem eigenen Haus nicht zurechtfinden? Wie können wir hoffen, in anderen Häusern Ruhe zu finden, wenn wir sie im ei- genen nicht zu finden vermögen?“, schreibt die Mystikerin Teresa von Avila in ihrer Schrift von der „Inne- ren Burg“. Das ist ein Gedanke, der mich vor einigen Jahren erschüttert hat. Zu lange habe ich außer- halb gesucht, was ich mir selber schenken lassen muss. Wie jeder i d n a g e W n a e t S / r e d r e H f : o t o F Pierre Stutz, katholischer Theologe und ehemaliger Priester aus der Schweiz, ist seit Jahrzehnten als spiritueller Beglei- ter und Buchautor tätig. Mit Kursen und Vorträgen ist er im deutschsprachigen Raum unterwegs, er lebt in Osnabrück und hat mehr als eine Million Bücher verkauft. In der Neuauflage sei- nes Büchleins „50 Ritua- le für die Seele“ (Herder Verlag 2022, 10 Euro) ermutigt Pierre Stutz mit kurzen Texten, im Hier und Jetzt Kraft zu schöpfen. Die Meditati- onen und Übungen des Theologen helfen, im Alltag Inseln der Ruhe zu finden und zu neuer Lebendigkeit aufzubrechen – am Morgen, am Arbeitsplatz, in der Natur, mit anderen Menschen oder beim Abschiednehmen. FreundeskreisJournal | 2/2022 Mensch brauche ich Freundinnen und Freunde, Anerkennung und Verwurzelung. Doch nur ich – dies ist eine schmerzliche und zugleich befreiende Erkenntnis – kann mir Heimat in mir schenken lassen. Es ist dies eine Beheimatung, die – so habe ich es erfahren – letztlich Gott allein ermöglichen kann. Gott ist in allen Dingen! Seit ich der Spur die- ser Erkenntnis folge, habe ich die Kraft der Rituale in meinem Leben, in meinem Alltag neu entdeckt. Was ist ein Ritual? „Es ist das, was einen Tag vom anderen un- terscheidet, eine Stunde von den anderen Stunden“, lässt Antoine de Saint-Exupéry den Fuchs zum kleinen Prinzen sagen. Darum ,,muss es feste Bräuche geben“. Ein Aufruf, der in unserer hektischen Welt, die zum Shoppingcenter der unendlichen Möglichkeiten ge- worden ist, aktueller denn je ist. Vereinsamung und Sinnverlust nehmen zu: Einfache spirituelle Alltagsübungen können eine Hilfe sein, im Alltäglichen das Wunder- bare zu entdecken – und sie helfen dazu, nicht länger fremdbestimmt zu leben, gelebt zu werden, son- dern mehr aus der eigenen Mitte heraus zu leben. Ein Ritual ist für mich ... • regelmäßig und bewusst einen Ort des lnnehaltens, des Aufat- mens aufzusuchen, an dem ich mich in meinem eigenen Haus zurechtfinden kann, • ein kraftvoller Moment der Erinnerung, dass das Wesentli- che im Leben nicht machbar ist, sondern immer Geschenk und Gnade bleibt, • wenn ich ,,den Himmel mit der Erde verbinde“, indem ich wahrnehme, was ist, und über mich hinauswachse, weil ich TeiI eines größeren Ganzen bin, • wenn ich Widerstand leiste und Zeichen setze für eine gerech- tere Welt, wo Gerechtigkeit, Lebensfreude, Solidarität und Zärtlichkeit spürbar werden, • wenn ich in das Urvertrauen hineinwachse, dass jeder Mensch sich immer wieder zum Guten verwandeln lassen kann, • wenn ich wiederhole, nachah- me, übe. Übung führt mich zu mehr Achtsamkeit und innerer Ruhe angesichts der drängen- den Fragen unserer Zeit. • ein mystischer Augenblick, in dem Raum und Zeit wie aufge- hoben erscheinen und ich in Berührung komme mit Gott, der Quelle allen Lebens, erfahrbar in der Schöpfung und dem gan- zen Kosmos, • eine heilende Erfahrung, weil die Seele, das Lebendige in uns, aufatmen kann und wir alle Erfahrungen zurückbinden können an den Grund unseres Lebens, den ich Gott nenne. Natürlich besteht auch die Ge- fahr, dass ein Ritual zur entleerten Gewohnheit, zum Automatismus wird. Um dem entgegenzuwirken, brauchen wir ein waches Auge, uns selbst und unsere Mitwelt be- wusst wahrzunehmen. So bleiben wir lebendig, spüren, ob uns dieses Ritual (noch) guttut, und entwi- ckeln uns weiter. Pierre Stutz Buchauszug mit freundlicher Genehmigung des Herder Verlags 7

N E T I E H N H O W E G & E L A U T I R LEBENSMOMENTE „Manchmal gelingt es mir, mich der Ruhe zu stellen“ Als Relikt meiner doch etwas längeren Jungge- sellenzeit kann ich die Stille einer leeren Woh- nung nicht aushalten. Daher läuft meistens das Fernsehen, öfter das Radio, und manchmal lege ich auch meine Vinylscheiben auf den Teller. Ich bin in einer Großfamilie mit drei Genera- tionen auf einem Bauernhof aufgewachsen, und da war immer etwas los. Als dann die Hochzeitsglocken meines Bruders läu- teten, durfte ich mir mit 23 Lenzen eine neue Bleibe suchen. Diese Stille zu hören, war damals für mich nicht auszuhalten und so blieben die Theken in diversen Kneipen – und eben Fernsehen und Co. Auch wenn meine Lotte und ich jetzt seit 17 Jahren zusammen sind, ist diese Unart geblieben. Wenn dann die Stille wieder im Raum steht, weil sich in der Wohnung nichts rührt, bin ich zurückgewor- fen auf mich selbst, und die Knöpfe werden gedrückt. Beim richtigen Fernsehkanal kann sich dadurch aber auch das Allgemeinwissen erhöhen. Manchmal ge- lingt es mir, mich der Ruhe zu stellen und so auch einen weiteren Zugang zu mir selbst zu öffnen, aber die Macht der Gewohnheit ist halt doch eine starke Macht. Meine LPs lege ich aber bewusst auf den Teller und teile die Zeit sehr gerne mit meiner Lotte. Apropos teilen: Lotte und ich genießen das ausge- dehnte Frühstück am Wochenende. Seit einer Geschichte, die wir auf einem Seminar der Freundeskreise gehört haben, teilen wir die Semmeln. Meine Liebe bekommt das untere Teil, und ich nehme den Deckel des Brötchens. Mir bereitet es viel Freude, das Brot mit meiner Lotte zu teilen und so mit ihr in besonderer Weise verbunden zu sein. Diese wortlose Kommunikation vertieft unsere Zuneigung zueinander und hilft uns, das Feuer der Liebe in uns zu erhalten. Wir haben auch im Vorfeld klargestellt, dass wir ansprechen, wenn sich einer von uns an dieser Abma- chung stört. Diese Angewohnheit wurde Teil unserer Beziehung (Ehe), und wir wollen daran festhalten, bis der Tod uns scheidet. Bernhard & Lotte Eiband, Freundeskreis Kempten/Allgäu „Ritual durchbrochen: das Feierabend-Bier ersetzt“ Das Feierabend-Bier, das Glas Sekt zu feierlichen Anlässen, der Kasten Bier beim Grillen usw., waren Gewohnheiten und Rituale aus meiner nassen Zeit. Diese zu ändern, war nicht leicht, da sie gesellschaftlich erwartet und toleriert werden. Solche und ähnliche Gewohnheiten und Rituale erleichtern das Zusammenleben, fördern das Gemeinschafts- gefühl und werden zumeist nicht hinterfragt nachgeahmt und weitergegeben. Als ich nach vielen Jahren erkannte, dass mein Alkoholkonsum nicht nur Ge- wohnheit oder Ritual war, sondern dass ich mittlerweile suchterkrankt bin, ent- schloss ich mich, diese Gewohnheiten und Rituale zu durchbrechen und mir ein suchtmittelfreies Leben und die dazugehö- rigen (alkoholfreien) Belohnungen und Ent- spannungen zu erarbeiten. Durch den Freundeskreis für Suchtkrankenhilfe wurde und werde ich in mei- nem Entschluss bestärkt und unterstützt, meine alten nassen Gewohnheiten und Rituale durch eine zufrie- dene Abstinenz zu ersetzen. Matthias Messerschmidt, Freundeskreis Bad Nauheim 2/2022 | FreundeskreisJournal t a v i r p : s o t o F , y a b a x P i : n o i t a r t s u l l I 8

GEWOHNHEITEN & RITUALE „Offene Schranktüren – oder rumliegende Socken?“ Was denkst du: Was ist eine typische Ange- Meine Freundin erzählte mir dann noch, dass ihr Mann abends gerne seine (getragenen) Socken im Bad rum liegen lässt. Sie räumt sie dann weg … Socken? Ihhh! Es wundert mich schon, dass die beiden noch verheiratet sind. wohnheit von mir?“ Das fragte ich neulich eine gute Freundin, die ich schon seit mei- ner Kindheit kenne. „Du trinkst deinen Kaffee nie ganz aus.“ Ja, das stimmt. Das mache ich schon so, seit ich Kaffee trinke – der letzte Rest schmeckt aber auch nicht … „Und außerdem lässt du beim Kochen gerne mal die Küchenschranktüren of- fen.“ Auch das stimmt. Ich finde das sehr praktisch. Das Meiste von dem, was ich aus dem Schrank hole, muss ja auch spä- ter wieder hinein. Die Zeitersparnis ist also enorm. Dann doch lieber offene Schranktüren! Aber da gehen die Meinungen auseinander. Die ordnungsliebenden Teile meiner Familie sind wegen meiner Angewohnheit schon mal verzweifelt. Und haben mit mir trai- niert: Tür öffnen, die eine Hand NICHT vom Griff nehmen, mit der anderen Hand etwas rausholen, Tür wieder schlie- ßen. Verringert das Verletzungsrisiko in der Küche ungemein. Und meistens klappt es ja. Aber eben nicht immer. Und während ich beim Kochen um die offenen Tü- ren drumherum balanciere, stößt sich der ein oder andere Küchenmitbenutzer gerne mal den Kopf oder rennt vor eine offene Schublade. Also doch gar nicht so praktisch. Und ehrlich gesagt vielleicht auch feh- lende Achtsamkeit. Etwas das man halt so in Gedan- ken macht, weil man es sich angewöhnt hat. Wenn also bei mir jemand in die Küche kommt und eine Schranktür steht offen, weiß jeder, wer es war. Aber so hat wohl jeder die ein oder andere Gewohn- heit, die ihn besonders macht. Steffi Fey, Freundeskreis Vogelsberg „Blick durchs Loch im Blätterdach des Apfelbaums“ An einem Ritual habe ich gut zehn Jahre fest- gehalten: Als 17-jähriger Lehrling ging ich auf dem Nachhauseweg mit einem Bekannten di- rekt vom Bus in die Kneipe. Das Feierabend-Bier war eine nette Gelegenheit, die Mühen des Tagwerks hin- ter sich zu lassen und die Unannehmlichkeiten weg- zuspülen. Gleichzeitig erfuhr ich dort die Dorf-Neuig- keiten und lernte die älteren Stammgäste kennen. Ich hatte das Gefühl, schneller Kontakt zu be- kommen und akzeptiert zu werden. Ein weiterer Grund für dieses Ritual: Im Wirtshaus wurden auch Arbeitsaufträge privater Bauherren vergeben, die gut be- zahlt wurden – eine Chance, den Stand in der Gemeinde zu verbessern, denn wer gut und viel arbeitete, war auch angese- hen. Es dauerte nicht lange, und aus dem Ritual, das sich mit vielen Bieren stundenlang bis in den späten Abend hinzog, wurde ein Zwang. schnitt des Sternenhimmels sehen kann. Es ist wie ein Blick in die Unendlichkeit. Die Ruhe und die Dunkel- heit an diesem Fleck, der Blick durch das Blätterdach zu den Sternen oder ins Nichts, helfen mir, mich her- unterzufahren. Dieses Ritual hat etwas Magisches. Ich kann hier zur Ruhe zu kommen und meinen Tag Revue passieren zu lassen, dabei Gutes in Erinnerung behalten und schlechte Gedanken über Bord wer- fen. Dann denke ich über mich und mein Tun nach und den Weg, auf dem ich mich gera- de befinde. Manchmal sitze ich auch nur so da, schaue durch das schwarze Loch. Al- lerdings dauert es nicht lange und ich schwelge in Erinnerungen oder habe plötzlich eine Idee. Meistens ist diese nicht gleich umsetzbar – noch nicht. Die Idee wird abgespeichert, um vielleicht eines Tages noch einmal darüber nachzudenken und im Ein anderes Ritual: Vor drei Jahren saß ich unter ei- nem Apfelbaum im Garten – ein rund hundert Jahre alter, vom Wetter gezeichneter Baum, durch dessen Krone man an einer bestimmten Stelle hindurch- schauen kann. Das Loch im dichten Blätterdach ent- deckte ich, weil der Betrachter dort einen kleinen Aus- besten Fall umgesetzt zu werden. Rituale sind wichtig, vielseitig und veränderbar. Sie können uns Halt geben – aber auch nicht mehr zeit- gemäß sein. Dann sollten wir ihnen nicht mehr nach- gehen. Bodo Schmidt, Freundeskreis Sonneberg FreundeskreisJournal | 2/2022 9 G E W O H N H E I T E N & R I T U A L E

THEMA Es darf nicht langweilig werden! Anfang 1995 hat Lutz Stahl (67) zum ersten Mal eine Gruppe der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe besucht und ist seitdem ein festes Mitglied der Mittwochsgruppe des Freundeskreis Karlsruhe e.V. 1997 übernahm er die Gruppenbegleitung und ist bereits seit mehreren Jahren ehrenamtlich als Vor- standsmitglied des Freundeskreises Karlsruhe und als Vorsitzender des Landesverbands Baden tätig. In den nun 27 Jahren bei den Freundeskreisen habe ich viele Gewohnheiten der Gruppe er- lebt und mitgestaltet“, resümiert Lutz. Einer Gewohnheit werde be- reits vor der zweistündigen Grup- penstunde nachgegangen: Wenn mehr als 15 Teilnehmende erschei- nen, werde die Gruppe geteilt. Dies geschehe durch Abzählen. So fän- den sich immer neue Gruppenkon- stellationen zusammen. Entstan- den sei diese Gewohnheit, weil es zu wenige Teilnehmende gegeben habe, und so hätten die beiden Mittwochsgruppen fusioniert. Als wieder mehr Menschen gekom- men wären, hätte sich die Gruppe eigentlich wieder teilen müssen. Dies sei von den Teilnehmenden aber abgelehnt worden. Sie profi- tieren nun von der der wöchentlich geänderten Konstellationen und damit auch von verschiedenen Gruppenbegleitungen. Wenn alle wie gewohnt im Stuhlkreis Platz genommen hätten, folge ein weiteres Ritual: Ein „Sig- nal“, durch das die Gruppenstunde eingeläutet werde – vor der Coro- na-Pandemie zum Beispiel eine Meditation. Das trüge dazu bei, dass alle Teilnehmenden ihre Auf- merksamkeit nun auf sich selbst bzw. die Gruppe richteten und Ne- bengespräche einstellten. Ein wei- teres Ritual sei es gewesen, dass die Gruppenmitte von verschiedenen Personen nett gestaltet wurde. Die- sem würde allerdings seit der Pan- demie nicht mehr nachgegangen. Gewohnheitsgemäß würden zu Beginn auch Termine oder andere wichtige Informationen bekannt- gegeben. Darauf folge die Befindlichkeits- runde. Auch das habe sich als eine Gewohnheit etabliert. Dabei sagen die Teilnehmenden, wie es ihnen geht und was sie in der letzten Zeit erlebt haben. Lutz sagt, dass es wichtig für die Gruppe sei, Gewohnheiten und Rituale zu haben. Sie machten die Gruppe persönlich und verbinden miteinander. Aus der Befindlichkeitsrunde ergäben sich dann die Themen für den weiteren Verlauf. Dieser Teil der Stunde würde dann durch die Teilnehmenden und Moderation der Gruppenbegleitenden indivi- duell gestaltet. Wichtig seien hier die Gesprächsregeln, das Einhalten dieser sei im Laufe der Zeit eben- falls Gewohnheit geworden. So gäben zum Beispiel alle Teilneh- menden ein Handzeichen, wenn sie etwas zum Gespräch beitragen möchten. Diese Regeln würden eine vertraute und sichere Ge- sprächsatmosphäre in der Gruppe schaffen. Den Abschluss der Gruppenstun- de bilde eine weitere Gewohnheit: die Abschlussrunde. Hier hätten alle Teilnehmenden die Möglich- keit zu sagen, ob für sie noch etwas offengeblieben sei. In diesem Fall würde nochmal ein Einzelgespräch mit der Gruppenbegleitung ange- boten werden. Diesen Punkt findet Lutz besonders wichtig, denn alle sollten mit einem besseren Gefühl aus der Gruppenstunde gehen, als sie zu Beginn hatten. Die letzte Gewohnheit des Abends seien die kurzen Gesprä- che zwischen den Teilnehmenden, die nach der Gruppenstunde noch y a b a x P i : n o i t a r t s u l l I 10 2/2022 | FreundeskreisJournal

GEWOHNHEITEN & RITUALE Welche Gewohnheiten der Freundeskreis-Gruppe guttun Im Gespräch mit Lutz Stahl vom Freundeskreis Karlsruhe vor der Tür stattfänden, bevor alle ihren Heimweg anträten. Häufig spräche die Gruppenbegleitung in dieser Zeit noch administrative oder organisatorische Dinge ab. Wie gut können sich Menschen, die neu in die Gruppe kommen, in die Gewohnheiten einfinden? Lutz: „Bisher gab es keine Schwierigkei- ten“. Und woran liegt das? Es gäbe eine Vorbereitungs- gruppe, die zunächst vier Mal be- sucht würde, bevor sich die Person eine der Stammgruppen aussu- che, indem sie die verschiedenen Gruppen besuchen könne. In der Mittwochgruppe gäbe es dann vor der regulären Gruppenstunde ein „Vorab-Gespräch“, in dem die Gruppenbegleitung den Ablauf der Stunde erläutere. So hätten die neuen Teilnehmenden bereits eine Idee, was sie erwarte, und es falle ihnen leichter, sich in den Ablauf einzufinden. Bei diesen Gruppen- stunden werde eine weitere Ge- wohnheit eingebracht: die Vorstel- lungsrunde. „Alle Teilnehmenden sagen ihren Namen, nennen ihr Suchtmittel/Suchtverhalten und ob sie angehörig oder selbst betrof- fen sind. Im Anschluss erfolgt dann die Befindlichkeitsrunde.“ Lutz erzählt weiter, dass frü- her während der Gruppenstunde weder gegessen noch getrunken wurde. Dies habe sich verändert, wobei Essen gäbe es noch immer nicht. Dies würde das Gruppenge- spräch zu sehr stören. Eine bereits seit Jahrzehnten abgeschaffte Ge- wohnheit sei das Rauchen im Auf- enthaltsraum gewesen. Dass neue Gewohnheiten aus den Bedürfnissen der Gruppe he- raus entstünden, fährt Lutz fort. Anregungen und Ideen würden zunächst in der Gruppe diskutiert, und nach einer demokratischen Abstimmung ausprobiert. In dieser „Testphase“ werde dann deutlich, ob sich eine neue Gewohnheit eta- bliere oder nicht. Voraussetzung sei allerdings, dass sie sich mit dem Freundeskreis-Gedanken verein- baren lasse. Neben den Gewohnheiten und Ritualen der Gruppenabende, gäbe es auch außerordentliche Veran- staltungen / Rituale, die jedes Jahr wie gewohnt stattfänden. Bei- spielsweise habe sich Schrottwich- teln zur Gruppen-Weihnachtsfeier als ein wiederkehrendes Ritual etabliert, ebenso, dass Geburts- tagskinder mit einem runden Ge- burtstag ein Präsent von der Grup- pe erhielten. Ein weiteres schönes Ritual des Vereins sei das zweimal im Jahr stattfindende Paddeln auf dem Altrhein und der bunte Abend. Die- ser wechsele sich jedes Jahr mit ei- nem viertägigen Ausflug ab. Derzeit versucht Lutz eine neue Gewohnheit in die Gruppe einzu- bringen, nämlich das einmal im Monat digital stattfindende „Werk- stattgespräch“. Hierbei handele es sich um ein Sachgespräch zu ver- schiedenen Themen, welches von Beratungsstellen angeboten werde und als Fachberatung für Gruppen diene. Lutz wünscht sich, dass die Teilnahme daran auch eine Ge- wohnheit wird. Abschließend merkt Lutz an, dass Gewohnheiten und Rituale ein Zugehörigkeits- und Heimatge- fühl auslösen und zur Motivation an der Gruppenteilnahme beitrü- gen. Durch zu viel Gewohnheit könnten Zusammenkünfte aller- dings auch langweilig werden, das gelte es zu verhindern. Sina Limpert im Gespräch per Videokonferenz mit Lutz Stahl FreundeskreisJournal | 2/2022 11 11

MATERIAL Material für die Gruppenarbeit Blitzlicht In vielen Gruppen ist es eine Gewohnheit, das Treffen mit einem „Blitzlicht“ zu beginnen und oder zu beenden. Bei einem „Blitzlicht“ sagen alle Teilnehmen- den in ein bis zwei Sätzen etwas zu einer vorgegebenen Fragestel- lung. Dabei können alle zu Wort kommen, ohne dass sie durch Zwi- schenfragen oder Kommentare un- terbrochen werden. Durch ein Blitzlicht zu Beginn, kann ein Eindruck gewonnen wer- den, wie es den Teilnehmenden geht und welche Themen sie in die Gruppenstunde mitbringen. Anregungsfragen für ein „Blitzlicht“ zu Beginn der Gruppenstunde: • Wie geht es dir gerade? • Was ist der Grund für deinen heutigen Besuch der Gruppe? • Was wünschst du dir von dem heutigen Treffen? • Welches Anliegen bringst du heute in die Gruppe mit? • Was liegt dir auf dem Herzen? • Was hat seit dem letzten Treffen besonders gut funktioniert? • Was sind momentan Herausforderungen / Schwierigkeiten für dich? • Wie war die Zeit seit dem letzten Gruppentreffen für dich? • Gibt es etwas, dass du seit dem letzten Gruppentreffen umsetzen / anders machen konntest? • Eigene Ideen: ....................................................................................................................................................................................................................................... ....................................................................................................................................................................................................................................... 12 2/2022 | FreundeskreisJournal

GEWOHNHEITEN & RITUALE Anregungsfragen für ein „Blitzlicht“ zum Abschluss der Gruppenstunde: Ein Blitzlicht zum Ende des Treffens kann dazu beitragen, einen Abschluss zu gestalten, bei dem nochmal alle Teilnehmenden zu Wort kommen können. • Wie geht es dir gerade? • Mit welchem Gefühl verlässt du die Gruppenstunde heute? • Was möchtest du bis zum nächsten Gruppentreffen umsetzen? • Was nimmst du aus der Gruppenstunde mit nach Hause? • Eigene Ideen: ....................................................................................................................................................................................................................................... ....................................................................................................................................................................................................................................... Variationen für ein „Blitzlicht“ in der Gruppenstunde Eine weitere Möglichkeit ist es, das Wohlbefinden in Katego- rien wie zum Beispiel Farben, Tiere, Pflanzen, Fortbewegungs- mittel auszudrücken. Dies bietet sich eher dann an, wenn sich die Teilnehmenden bereits kennen, da es anfangs zu Irritationen führen kann. Um eine Kategorie im Blitzlicht einzubinden, könnte die Frage lauten: Wenn du eine Farbe (Tier, Pflanze etc.) wärst, welche wäre das und wieso? Es regt die Teilneh- menden dazu an, darüber nachzu- denken, mit welcher Farbe sich ihr aktuelles Wohlbefinden am besten ausdrücken ließe und sie nennen eine kurze Begründung. Auch so kann ein Eindruck darüber gewon- nen werden, wie es den Teilneh- menden geht und welche Themen in die Gruppenstunde mitgebacht werden. Ein Beispiel: Die Gruppenbegleitung fragt die Teilnehmenden zum Einstieg in das Gruppentreffens: Wenn Du ein Fortbewegungsmittel wärst, wel- ches wäre das und wieso? Ein Teilnehmer antwortet: „Mo- mentan fühle ich mich wie ein FreundeskreisJournal | 2/2022 ein Schaumstoffwürfel oder ein Wollknäuel) passieren, den sich die Teilnehmenden zuwerfen. Die Per- son, die den Gegenstand fängt, ist an der Reihe. Containerschiff. – Ich habe vieles, das ich mit mir rumschleppe.“ Eine Teilnehmerin sagt: „Ich füh- le mich wie ein Sportwagen. – Ich habe das Gefühl, dass ich derzeit mit Schnelligkeit vorankomme.“ Bei der Auswahl der Kategorie sollte drauf geachtete werden, dass sie nicht zu speziell ist, so dass alle Teilnehmenden etwas dazu sagen können. Außerdem kann das Blitzlicht aufgelockert werden, indem die Teilnehmenden nicht in der Rei- henfolge, in der sie sitzen, etwas sagen, sondern die Reihenfolge ge- mischt wird. Bei einem Würfel wie dem abge- bildeten, können die sechs Taschen darüber hinaus mit Symbolen oder Smilies bestückt werden, und alle Teilnehmenden suchen sich das Symbol aus, welches ihr aktuelles Befinden am besten ausdrückt und begründet die Auswahl kurz. Ein Blitzlicht zum Einstieg oder Abschluss kann nicht nur in den Gruppenstunden, sondern auch bei Seminaren genutzt werden. 13 Dies kann zum Beispiel durch einen Gegenstand (zum Beispiel

THEMA Der schmale Grat zwischen Gewohnheit und Sucht Wann wird eine Gewohnheit zur Sucht? Die Hirnfor- schung hat herausgefunden, dass ein bestimmtes Areal im Gehirn für Belohnungsprogramme verant- wortlich ist, die die Entstehung einer Sucht begünsti- gen. Wissenschaftsautor Dr. Christian Honey erklärt, warum eine Sucht „eine erlernte Krankheit“ ist. w e r C t o h s d a e H l / a o s n e t S r o T : o t o F Im Kultfilm „Coffee and Ciga- rettes“ sitzen Tom Waits und Iggy Pop zusammen in einem typisch amerikanischen Diner und schlürfen Kaffee. Auf ihrem Tisch liegt eine Packung Zigaretten, die jemand dort vergessen hat. Für Tom und Iggy Anlass, darüber zu sprechen, wie glücklich sie jetzt sind, da sie endlich mit dem Rau- chen aufgehört haben. „Das beste am Aufhören ist”, sagt Waits, „dass ich mir nach dem Aufhören auch einfach eine gönnen kann.” Dann nimmt eine Zigarette aus der Pa- ckung und steckt sie sich an. Kaffee und Zigaretten, warum passen die beiden Genussmittel so gut zusammen? Warum halten sich Gewohnheiten wie das Rau- chen zum Kaffee so hartnäckig, und wann wird eine Gewohnheit zur Sucht? Die Hirnforschung hat mittlerweile alle Puzzleteile zu- sammengetragen, die diese Fragen beantworten können. Im Zentrum steht dabei ein Hirnbereich, der darüber entscheidet, welche Hand- lungen wir überhaupt ausführen: die Basalganglien, eine Gruppe stark vernetzter Verbände aus Ner- venzellen tief im Gehirn, von den Ohrenspitzen aus etwa einen Zei- gefinger weit innerhalb des Schä- dels. Bei zielgerichteten bewussten Handlungen agieren die Basalgan- glien wie ein selektiver Verstärker. Plant die Hirnrinde (Kortex) eine 14 Handlung, so wird das dafür not- wendige Motorprogramm an die Basalganglien geschickt und läuft dort durch zwei parallele Pfade, um am Ende wieder im Kortex zu landen. Doch während der „direk- te” Pfad das Handlungsprogramm im Kortex verstärkt, wird es vom anderen, dem „indirekten” Pfad, gehemmt. So beherbergen die Ba- salganglien gleichsam ein „Los geht‘s”-Netzwerk und ein „Nein, lass mal”-Netzwerk. Beim Griff zur Kaffee-Tasse oder zur Zigarette hat also das „Los geht‘s”-Netzwerk im Gehirn von Tom Waits gewonnen. „Los geht’s” oder „Lass mal” Nicole Calakos von der Duke University in North Carolina und ihre Mitarbeiter meinen, dass sol- che Gewohnheiten eine deutliche Signatur in den Basalganglien hin- terlassen. Im Fachjournal „Neuron“ berichten sie von einem Experi- ment, in dem sie Mäuse darin trai- nierten, einen Hebel zu drücken, um an eine Leckerei zu kommen. Nach sechs Tagen Training mach- ten sie den Tieren die Leckereien dann in großen Mengen frei zu- gänglich. „Dadurch haben wir für die Tiere das Drücken des Hebels entwertet”, sagt Calakos. Doch ob- wohl es den Tieren nichts mehr brachte, drückten viele von ihnen den Hebel weiterhin – die einen mehr, die anderen weniger. Sie hat- ten eine Gewohnheit entwickelt. Dr. Christian Honey (43) aus Berlin war zunächst Hirnforscher und arbeitet heute als Wissenschaftsjournalist. Näheres auf seiner Website www.evidence-based-journalism.com Nach dem Experiment unter- suchten Calakos und ihre Kolle- gen die Basalgangien der Tiere. In Schnitten der Mäusehirne simu- lierten sie den Input vom Kortex mit elektrischen Impulsen, und maßen mit einem Fluoreszenzmi- kroskop gleichzeitig die Aktivität im „Los geht’s”– und im „Lass mal”- Pfad. Das Ergebnis: je stärker die Gewohnheit einer Maus war, desto schneller reagierten die Neurone im direkten Pfad. Ein zeitlicher Vor- sprung im „Los geht’s”-Pfad scheint also die neurologische Grundla- ge für eine starke Gewohnheit zu sein. Ob Calakos Resultate auf den Menschen übertragbar sind, ist noch nicht klar. Aber angenom- men sie sind es: Wie unterscheidet sich dann der Griff zur Zigarette vom Griff zur Kaffeetasse? Was unterscheidet aus neurologischer Sicht die Suchthandlung von der Gewohnheit? „Bei einer unerwarteten Beloh- nung schüttet das Belohnungssys- tem des Gehirns den Neurotrans- mitter Dopamin auch in einem Teil der Basalganglien aus, dem Nucleus Accumbens”, sagt Pro- 2/2022 | FreundeskreisJournal

Der schmale Grat zwischen GEWOHNHEITEN & RITUALE y a b a x P i : s o t o F Was passiert in den Gehirnregionen? fessor Christian Lüscher von der Universität Genf. „Der Nucleus Ac- cumbens integriert Informationen aus vielen Teilen des Gehirns, etwa solche, die Angst kodieren oder die motorische Koordinaten im Raum.” Die Basalganglien (Großhirn- und Zwischenhirnkerne) entscheiden dann, ob bei der aktuellen Kombi- nation der direkte oder der indirek- te Pfad die Oberhand gewinnt. Das Dopamin-Signal In der Tat belegen mehrere Stu- dien, dass ein stark erhöhter Do- paminpegel im Nucleus Accum- bens den direkten Pfad aktiviert, und den indirekten Pfad hemmt. Das Dopamin-Signal aus dem Be- lohnungssystem verändert damit, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Handlung beim nächsten Mal wieder ausgeführt wird und damit, ob sie eine Gewohnheit bleibt oder zur Sucht wird. „Hat man sich an eine Beloh- nung gewöhnt, dann erlischt das Dopaminsignal.” sagt Lüscher. „Das definierende Merkmal von süchtig machenden Drogen ist aber, dass sie das Belohnungssignal künstlich aufrecht erhalten.” Im Gegensatz zum Koffein fluten Drogen wie Ni- cotin den Nucleus Accumbens mit Dopamin, bei einer Zigarette für ein paar Minuten, bei Kokain oder Heroin sogar über Stunden. Und zwar ganz unabhängig davon, ob man in dieser Zeit eine echte Be- lohnung bekommen hat oder nicht. FreundeskreisJournal | 2/2022 15

THEMA Drogen nehmen, auch süchtig. Tatsächlich ver- fallen bei Kokain „nur“ etwa 20 Prozent der Kon- sumenten dauerhaft der Droge. Dieser Anteil scheint bei Nagern und Menschen in etwa gleich groß zu sein. „Heute ver- dichten sich die Hinweise darauf, dass bei den an- fälligen Individuen die Reaktion der Basalgangli- en auf das Dopamin-Sig- nal auch von epigeneti- schen Faktoren abhängt, also davon, wie Erlebnis- se und Umweltfaktoren die Aktivität der Gene in Nervenzellen beeinflus- sen”, sagt Lüscher. „Das könnte erklären, warum Menschen, die trauma- tische Phasen in ihrem aufweisen, Lebenslauf stärker zur Ausbildung einer Sucht neigen als andere.” Der neurowis- senschaftliche Beweis für diese These stehe allerdings noch aus. Unabhängig von der individu- ellen Suchtneigung nehmen wir beim Griff zur Kaffeetasse oder zu Zigarette an einem kleinen Selbst-Experiment teil. Kaffee trin- ken bleibt dabei im schlimmsten Fall eine Gewohnheit. Der Entzug bereitet zwar oft Kopfschmerzen, doch das Belohnungssystem bleibt unbeeindruckt. Zugleich ist das Kaffeetrinken für viele Raucher der Kontext für die Zigarette. Und jedes Mal wenn man eine raucht, verstärkt das den „Los geht’s”-Pfad in den Basalganglien. Als Iggy Pop seinen ersten Zug genommen hat, pustet er den Rauch genüsslich aus und sagt zu Waits: „Alter, ich sag dir was: Kaf- fee und Zigaretten, das ist ‘ne Kom- bination!“ Dr. Christian Honey 2/2022 | FreundeskreisJournal Gefährliche Gratwanderung: Nicht alle Suchtfaktoren kann man kontrollieren Sucht ist erlernte Krankheit Wie stark der Effekt dieser Do- paminflut sein kann, zeigt eine Studie, die Lüschers Gruppe im Jahr 2015 im Journal Neuron ver- öffentliche. Wie in Calakos Expe- riment trainierten sie Mäuse, die einen kleinen Hebel drücken. Doch statt über ein Leckerli bekamen die Tiere ihr Dopaminsignal über eine implantierte Elektrode in ih- rem Belohnungssystem. Bei jedem Druck auf den Hebel aktiviert die Elektrode das Belohnungssystem, so dass das Drücken Hebels allein für die Mäuse immer aufs Neue be- lohnend war, genau wie der Zug an einer Zigarette für unser Gehirn. Und auch die Konsequenzen waren vergleichbar: Die Mäuse wurden süchtig danach, den Hebel zu drü- cken, ohne jemals etwas dafür zu bekommen. Selbst nach tagelanger Abstinenz stürzten sich die süchti- gen Tiere wieder auf den Hebel. einer Sucht lernen wir weit mehr als nur das Nehmen der Droge selbst. Auch der Kontext wird vom Dopaminsignal markiert. „Es gab schon in den 1970er-Jahren Studi- en über Heroinsucht von Soldaten im Vietnamkrieg. Die zeigen, dass heroinsüchtige Soldaten, wenn sie wieder daheim waren, viel bes- ser von der Droge loskamen als Menschen, die in der Umgebung geblieben sind, in der sie süchtig wurden.” In dem mit der Sucht assoziierten Kontext erwartet das Belohnungssystem einen be- lohnenden Stimulus, ein Leckerli. „Wenn dann die Belohnung aus- bleibt, wird das Belohnungssystem gehemmt”, sagt Lüscher. „Bei einer Gewohnheit reicht das aus, diese abzulegen. Bei der Sucht aber ist dieses Signal so stark, dass die Gier nach der Droge einsetzt.” Verstärkendende Faktoren „Eine Sucht ist eine erlernte Krankheit”, sagt Lüscher. Doch bei Allerdings werden nicht alle Menschen, die süchtig machende 16

BUNDESVERBAND Freundeskreis-Bundes- treffen 2023 in Baunatal Am 20. Mai 2023 findet das Bundestreffen der Freun- deskreise für Suchtkran- kenhilfe statt. Unter dem Motto „Willkommen im Leben“ treffen sich Freundeskreisler/innen aus ganz Deutschland in der Stadt- halle im nordhessischen Baunatal. Neben einem Fachvortrag des Si- nus-Instituts zum Thema „Lebens- welten“ werden verschiedene Mitmach-Aktionen sowie ein Büh- nenprogramm angeboten und es gibt Raum zum Austausch. Infos und Kontakt: Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe Tel. 0561 780413 www.freundeskreise-sucht.de Zehn neue Videoclips für die Freundeskreise sollen entstehen Neues Projekt: „Verklicker“-Filme Durch die individuelle Pro- jektförderung nach § 20h SGB V fördert die IKK classic das neue Projekt des Bundesver- bands mit 38.400 Euro. Geplant ist die Produktion von zehn 90-sekün- digen Videoclips, in denen wichti- ge Themen des Verbands und der Sucht-Selbsthilfe aufgegriffen wer- den. Die Videos bieten Hilfesuchen- den und Interessierten eine weitere Möglichkeit, die Philosphie und Ar- beit der Freundeskreise für Sucht- krankenhilfe kennenzulernen. Sie können in den Freundeskreise zur Öffentlichkeitsarbeit und bei Kli- nikvorstellungen genutzt werden. Die Videoclips werden voraussicht- lich um Frühjahr 2023 fertiggestellt und veröffentlicht. FreundeskreisJournal | 2/2022 Szene aus dem YouTube-Trickfilm „So funktioniert Sucht-Selbsthilfe“ der Freundeskreise 17

BUNDESVERBAND Treffen der Operatoren des Freundeskreis-Chats Wie soll es mit dem Online-Angebot der Freundeskreise weitergehen? Zwölf Chat-Operatoren und Suchtreferentin Sina Limpert trafen sich vom 1. bis 3. Juli 2022 im CVJM-Tagungshaus in Kas- sel. Zwei neue Teilnehmende wa- ren bei dem Chattreffen der Freun- deskreise zum ersten Mal dabei. Start war am Freitag mit der Be- grüßung und einer Einschätzung der Gesamtsituation im Chat. Da- bei drückten die Teilnehmenden ihren Zufriedenheitsstatus mit einer Zahl von 0 bis 12 in einem Diagramm aus. Das Ergebnis: Die meisten ordneten sich in der Kurve zwischen den Ziffern 4 und 7 ein. Warum? Die Aussprache zeigte, es gibt mehrere Aspekte, die zu einer gewissen Unzufriedenheit beitra- gen. So sind zum Beispiel wenige Gäste im Chat, es gibt keine „Sucht- probleme“ bei Gästen, teilweise findet nur Smalltalk statt, es fehlt der Informationsaustausch unter den Operatoren und sie erhalten keine Reaktion/Antwort von Gäs- ten, auch bei direkter Ansprache. Wir diskutierten im Plenum, wie wir mit der angezeigten Situati- on umgehen können und suchten nach Lösungswegen. Am Samstagmorgen began- nen wir mit der Erläuterung von Technik und Regeln. Heiko Küffen (Administrator) hatte einen Test- Chat erstellt, in dem die Gruppe Chat-Befehle üben konnte. Wichtig zu wissen ist, wie reagiert werden kann, wenn zum Beispiel Situatio- nen auftreten, in denen Gäste oder User stören oder ausfällig werden. Das sorgt für ein gewisses Maß an Sicherheit. Danach besprachen wir den Ein- satzplan der Operatoren und arbei- teten im Anschluss in Kleingrup- pen an drei Arbeitsblättern. Die Themen waren: • Grenzen: In welcher Situation komme ich an meine Grenzen, wie gehe ich damit um, was würde mir helfen/was brauche ich noch? • Verantwortung: Welche Ver- antwortung habe ich als Operator, wie gehe ich damit um, was würde mir helfen/was brauche ich noch? • Die Arbeit als Operator: Was bringe ich als Operator in den Chat ein, was frustriert mich als Opera- tor, wie gehe ich damit um? wurden angehört und es wurde ausgiebig darüber diskutiert, wie damit umzugehen ist. Gerade in diesem Fall verdeutlichte sich der dringende Handlungsbedarf, alle Operatoren zeitnah über Vor- kommnisse zu informeren. Wir haben an diesem Wochen- ende sehr viel besprochen und Entscheidungen getroffen, die dem Weiterbetrieb des Chats gut tun Die Teilnehmenden des Freundeskreis-Chattreffen in Kassel Hier kamen wir auf sehr viele ernstzunehmende Aspekte. Wich- tig ist es, auf sich selbst zu achten, die eigene Kommunikation zu re- flektieren und die Zusammenar- beit untereinander zu verbessern. Wir einigten uns darauf, zukünftig in regelmäßigen Abständen und auch, wenn notwendig, kurzfris- tige OP-Chats als Videokonferenz durchzuführen. Ein schwieriges Thema zum Schluss: der Ausschluss einer Use- rin wegen mehrfachen Fehlverhal- tens. Alle beteiligten Operatoren werden. Denn in einem waren wir uns einig: Der Chat ist und bleibt ein wichtiger Bestandteil der Ar- beit der Freundeskreise für Sucht- krankenhilfe. Alle sind stolz auf ihre Arbeit, für die ich mich auch im Namen des Bundesverbands bedanke. Béatrice Schober, stellv. Vorsitzende des Bundesverbands 18 2/2022 | FreundeskreisJournal

Ausbildung zur Gruppen- begleitung Die Ausbildungsreihe der Gruppenbegleitung 2021/22 wurde beendet. Das letzte Seminarwochenende fand zum Thema „SUCHT und findet im Freundeskreis“ vom 22. bis 24. April im St. Bonifatiuskloster in Hünfeld statt. Durchgeführt wurde es von den Mitgliedern des geschäfts- führenden Vorstands Béatrice Schober, Andreas Bosch und Ralf Vietze. 17 Personen aus acht Lan- desverbänden nahmen an der Aus- bildungsreihe teil. Es waren fünf intensive Wochenenden, an denen Neues kennengelernt, Gewohntes in Frage gestellt und neue Kon- takte geknüpft wurden. Der Bun- desverband wünscht allen Teil- nehmenden viel Freude und gutes Gelingen bei der Begleitung Grup- penbegleitung und bedankt sich für das ehrenamtlichen Engage- ment. Die nächste Ausbildungs- reihe zur Gruppenbegleitung wird 2023 durchgeführt. BUNDESVERBAND Delegiertenversammlung in Hünfeld l r e s s e K d e r f n a M : o t o F Vom 6. bis 8. Mai 2022 fand die Delegiertenversammlung des Bun- desverbands der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe im St. Bo- nifatiuskloster in Hünfeld statt. Seit Ausbruch der Corona-Pan- demie war dies das erste Mal, dass wieder Gäste an der Versammlung teilnehmen konnten. Es waren 30 Delegierte aus den Landesverbänden anwesend. Der Bundesvorstand wurde für das Geschäftsjahr 2021 ent- lastet. Neben Berichten zu den aktuellen Projekten des Bundesverbands wurde auch über die Planung 2022/2023 gesprochen. Box mit Infobroschüre „Basiswissen“ und Praxisanregungen auf Karten Die im Frühjahr fertiggestell- te Box beinhaltet 80 Kar- ten mit Anregungen zur Gruppengestaltung und Platz für eigene Ideen sowie die Broschüre „Basiswissen für die Gruppenbe- gleitung“. Insgesamt wurden 1.050 Exem- plare der Kartensammlung ge- druckt. Gefördert wurde das Pro- jekt von der DAK Gesundheit mit 29.400 Euro im Rahmen der indi- viduellen Projektförderung nach § 20h SGB V. In einer mehrtägigen Pack-Aktion (Foto) wurden in der Geschäftsstelle über 700 Boxen ge- faltet, mit den Inhalten bestückt, verpackt und an die Freundes- kreis-Gruppen versandt. FreundeskreisJournal | 2/2022 19 t r e p m L a n S i i : o t o F

Jahrbuch Sucht Die Deutsche Hauptstelle für Sucht- fragen e.V. (DHS) hat das „Jahrbuch Sucht 2022“ veröffentlicht. Darin werden Statistiken zum Konsum von Suchtmitteln und Suchtformen zusammengefasst. Neben Alkohol, Medikamenten und illegalen Dro- gen werden auch Essstörungen und Glücksspiel thematisiert. Das Jahr- buch ist im Buchhandel erhältlich. KURZMELDUNGEN Kurz und bündig Bundesdrogenbeauftragter für Cannabis-Freigabe „Wir werden die kontrollierte Cannabisabgabe an Erwachsene er- möglichen, um den Gesundheitsschutz der Konsumierenden und die Prävention auszubauen!“ Das sagte der Drogenbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Burkhard Blienert, auf der soge- nannten Hanfparade im August 2022 in Berlin. Weiter sagte Blienert: „Die Bundesregierung will den Neuanfang: Weg von der Strafverfolgung hin zu mehr Jugend- und Gesund- heitsschutz. Seit Jahren setze ich mich mit voller Kraft dafür ein, dass Cannabis kontrolliert in lizensierten Fachgeschäften an Erwachsene abgeben werden darf. Nur durch diese Form der Abgabe können Cannabiskonsumierende geschützt und gleich- zeitig der Schwarzmarkt zurückgedrängt werden. Flankiert werden muss dieser Paradigmenwechsel durch eine Stärkung der Präventions- und Aufklärungsarbeit. Mein Credo: Cannabis ja, aber sicher und nur für Erwachsene! “ Guttempler haben „SoberGuides“ Videos für Kinder aus Suchtfamilien: „Ich finde meinen Weg“ „SoberGuides“ nennen die Guttempler ihre geschulten ehrenamtlichen Begleiter/ innen in der Sucht-Selbst- hilfe. Das anonyme und kostenlose Angebot wendet sich an Suchtkranke und Angehörige und verspricht über drei Monate persönli- che und intensive Beratung per Telefon. Auf der Home- page kann man seinen persönlichen SoberGuide wählen: www.soberguides.de „Ich finde meinen Weg“ heißt die Video-Reihe für Jugendliche und junge Erwachsene aus suchtbelasteten Fami- lien, produziert von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). Ein Faltblatt mit weiterführenden Informa- tionen ergänzt das Angebot. Die etwa anderthalbminütigen Kurzfilme widmen sich zentralen Themen des Jugend- und jungen Erwachsenenalters: Ablösung vom Zuhause, Liebe, Umgang mit Alkohol, Berufswahl und Selbstfindung. Die Videos im YouTube-Kanal der DHS: 20 2/2022 | FreundeskreisJournal y a b a x P i : o t o F

KURZMELDUNGEN Sexsucht ist Krankheit Am 1. Januar 2022 ist die ICD11 in Kraft getreten. ICD steht für „International Statistical Classification of Diseases and Rela- ted Health Problems“ – zu Deutsch „Internationale statistische Klassi- fikation der Krankheiten und ver- wandter Gesundheitsprobleme“ – und dient als Instrument zur Di- agnose- und Todesursachenver- schlüsselung. Die einzelnen Mit- gliedstaaten der WHO haben nun fünf Jahre Zeit sie einzuführen. In der ICD11 sind erstmals Com- puterspielsucht sowie zwanghaftes Sexualverhalten als Krankheiten aufgelistet. Beide Erkrankungen sind unter den Impulskontrollstö- rungen zu finden. In der ICD10 war bereits unter F63.0 pathologisches Glückspiel klassifiziert, mit der Neuerung sind nun auch online und offline Computerspielsucht als Krankheit benannt. Zwanghaftes Sexualverhalten ist umgangssprachlich auch als Sexsucht bekannt. Es bedeutet, dass die Sexualität zu einem zen- tralen Punkt im Leben wird und andere Interessen vernachlässigt werden. Ebenso hat es negative Auswirkungen auf das soziale Le- ben der betroffenen Personen und kann auch zu finanziellen Schwie- rigkeiten führen. Übermäßiger Te- lefonsex sowie Pornokonsum ge- hören zu dem Krankheitsbild. Die Aufnahme von Krankheiten in die ICD führt in der Regel zu ei- ner Verbesserung der Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten von betroffenen Personen, da die nötigen finanziellen Mittel dafür leichter zugänglich sind. Kritische Stimmen aus der Me- dienpsychologie und den Kommu- nikationswissenschaften befürch- ten, dass anstatt der Ursachen nur die Symptome der Computerspiel- FreundeskreisJournal | 2/2022 y a b a x P i : WIE ERKENNT MAN SEXSUCHT? o t o F sucht behandelt würden. Es kön- nen auch Krankheiten wie Depres- sionen oder Angststörungen zu einem übermäßigen Spielverhal- ten führen. Auch die Gaming-In- dustrie befürchtet, dass Personen, die viel spielen, automatisch als be- handlungsbedürftig gelten könn- ten und stigmatisiert würden. In Deutschland wird derzeit die ICD10 genutzt, bisher ist noch un- klar, wann sie durch die ICD11 ab- gelöst wird. Quelle: T. Müller (2019): Das sind die neuen Krankheiten im ICD 11. https://www.aerztezeitung.de/Medi- zin/Das-sind-die-neuen-Krankheiten- im-ICD-11-255342.html (Stand 02.09.2021). R. Labahn (2018): Computerspielsucht als Erkrankung https://idw-online.de/ de/news700885 (Stand 15.08.2022) o. A.: 11.Revision der ICD der WHO (ICD11) https://www.bfarm.de/DE/Ko- diersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD- 11/_node.html (Stand 21.09.2022) Symptome einer Sexsucht sind nicht eindeutig zu klassifizieren, denn nicht jedes gesteigerte sexuelle Verlangen ist Anzeichen einer Sexsucht. Sobald die von der Sucht Betroffenen jedoch ununterbrochen Lust empfinden und ihr alltägliches Leben danach aus- richten, sollte professionelle Hilfe in Erwägung gezogen werden. Sexsüchtige konsumieren oft mehre- re Stunden täglich Pornografie oder suchen nach anderen sexuellen Inhal- ten, um ihre sexuellen Fantasien zu stillen. Das Überangebot des Internets und die sensorische Überreizung der betroffenen Person bewirkt häufig das Ausbleiben des Gefühls der sexu- ellen Befriedigung. Infolgedessen konsumieren Menschen mit Sexsucht vermehrt Pornografie über das Inter- net. Weiterhin indizieren ausschwei- fende sexuelle Phantasien, die den Alltag von sexsüchtigen Menschen beeinträchtigen, eine Sexsucht. Selbsttest unter www.libermenta.com 21

PORTRÄT „Ich wollte leben“ An einem dramatischen Punkt änderte sich Jürgen Fischers Leben schlagartig Gewohnheiten geben Sicher- heit, können aber auch blo- ckieren“, sagt Jürgen Fischer zum Thema des Freundeskreis Journals. Ein Satz, der sitzt. Nicht einfach so dahergesagt, sondern überlegt und geerdet. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass der Geschäftsführer des Freundes- kreises für Suchtkrankenhilfe Göt- tingen von Beruf Elektriker ist, der weiß, dass Erdung unerlässlich ist, will man keinen Stromschlag be- kommen. „Wir ticken hier in Göttingen etwas anders“ k n a m m S i . L : o t o F „Ich bin ein sehr systematischer Mensch“, sagt 54-Jährige über sich selbst. Im Gespräch stellt sich her- aus: Er versteht es, Dinge auf den Punkt zu bringen. Sicherlich ein Grund dafür, dass der Mann mit den grauen Stoppelhaaren schon seit über zehn Jahren im Vorstand des Vereins aktiv ist, in dem über- durchschnittlich viele junge Men- schen mit Suchtproblemen Hilfe suchen. Wie ist das möglich entge- gen des sonstigen Trends der Über- alterung in den Gruppen? „Wir ticken hier in Göttingen etwas an- ders“, lächelt Fischer. Zweimal war der Führerschein weg Selbsthilfe ist Jürgen Fischers Lebensprinzip geworden. Das war nicht immer so. Seine Suchtge- schichte offenbart frühen Kon- takt zum Alkohol verbunden mit der Suche nach Anerken- nung. Schon im Konfirman- denalter ging es in der Dorf- clique los: Alkohol gehört zum Feiern, ist cool, macht locker, schweißt zusammen. Auf die Realschule folgt die Lehre, und auch hier fließt das Bier in Strömen: während der Arbeit, bei der Heimfahrt von den Baustellen, nach Feierabend und an den Wo- chenenden geht’s in der Disco weiter. Da passiert es zum ersten Mal: Der junge Elektriker wird von der Polizei mit Alkohol am Steuer angehalten und muss seinen Füh- rerschein für elf Monate abgeben. Was ihn aber nicht daran hindert, weiter zu trinken, denn dank Fahr- gemeinschaften muss er nun keine Rücksicht mehr nehmen. Süchtige Arbeitnehmer sind erpressbar Zehn Jahre später wechselt er als Elektriker in den öffentlichen Dienst zur Abwasserreinigung der Stadt Göttingen. Es gibt neue Grün- de für gesteigerten Bierkonsum: Dreischichtbetrieb, Unzufrieden- heit mit den Arbeitsbedingungen. Nach einem Himmelfahrts-Be- säufnis im Dorf und anschließen- der Autofahrt ist er den Schein erneut los. Das lässt sich nicht verheimlichen, aber im Job funk- tioniert er weiter und es gibt keine beruflichen Konsequenzen: „Meine Vorgesetzen haben in ihrer Fürsor- gepflicht versagt.“ Fischers Erfah- rung: „Süchtige Arbeitnehmer sind gute Arbeitnehmer, denn sie sind erpressbar.“ Um die Fahrerlaubnis zurückzu- bekommen, muss Fischer die MPU bestehen, was ihm gelingt. Aber trotz Blutkontrollen trinkt er heim- lich weiter, jetzt vor allem hoch- prozentigen Ouzo. Dann kommt die Autofahrt nach Belgien, wo er seine heutige Frau besuchen will. Unterwegs im Ruhrgebiet kippt er Jürgen Fischer (54), Geschäftsführer des Freundes- kreises Göttingen, legte einen langen Weg zurück, bis er zu dem wurde, der er heu- te ist. Zu den Freundeskreisen kam er aufgrund seiner Sucht vor 18 Jahren. 22 2/2022 | FreundeskreisJournal

eine Flasche Jägermeister, trifft dann die letzte Abfahrt nicht und wacht erst im Krankenhaus wieder auf. Als er das total demolierte Autowrack sieht und von den 4,7 Pro- mille im Blut hört, wird ihm klar: Das Leben ist zu wert- voll, um mit Alkohol weiterzumachen. Er hört auf mit dem Trinken, denn: „Ich wollte leben.“ Es gibt keinen Schalter, den man umlegen kann Der Versuch einer ambulanten Therapie scheitert, aber die Entgiftung und Behandlung mit dem Medikament Antabus („eine Krücke“) in einer Suchtklinik bringen ihn weg vom Alkohol. Aber erst im Freundeskreis versteht Fi- scher langsam, dass er nicht einfach einen Schalter um- legen kann, um abstinent zu werden, sondern dass Ver- halten und Bewusstsein sich ändern müssen: „Ich musste mich mit mir selbst beschäftigen, das war ein mühsamer Prozess.“ Aus der Freundeskreis-Infogruppe wird die feste Grup- pe „U40“, in der sich jüngere Alkoholiker, Spieler, Medika- mentenabhängige und Angehörige zusammenfinden. Die Gruppe existiert bis heute – 18 Jahre später nennen sich die Mitglieder im Alter zwischen 24 und 58 Jahren immer noch „U40“, da das Durchschnittsalter um 40 ist. Fischer lernt, den Ärger auf der Arbeit nicht „runterzuschlucken“, sondern seine Meinung zu sagen. Er geht jetzt offen mit seiner Sucht um und kann im Rahmen der Dienstverein- barung sogar als Suchtkrankenhelfer für Kollegen tätig werden. „Der Weg der Veränderung ist lang“ „Der Weg der Veränderung ist lang“, sagt Jürgen Fi- scher rückblickend. Und was hat sich in den vergangenen 18 Jahren im Freundeskreis Göttingen verändert? „Eigent- lich nicht viel“, überlegt Fischer: „Schon meine Vorgänger, ob als Suchtkrankenhelfer oder im Vorstand, hatten auch andere Süchte als Alkoholismus im Blick, sie waren bereit, Veränderungen zu sehen und darauf zu reagieren.“ Man trifft sich mit unterschiedlichen Suchterfahrungen in ei- ner Gruppe. Das Besondere in Göttingen sind zudem zwei vorgeschaltete Infogruppen für Neuzugänge. Ansonsten gibt es unter dem Vereinsdach acht „geschlossene“ Selbst- hilfegruppen mit jeweils höchstens 16 Mitgliedern. Der Freundeskreis arbeitet eng mit der diakonischen Fachstelle für Sucht und Suchtprävention zusammen, die professionelle Hilfen vermittelt. Als Geschäftsführer des großen Vereins hat Fischer nicht gerade wenig zu tun: Kontaktnetze knüpfen, Förderanträge stellen, Seminare organisieren, viel Organisatorisches. Fortbildung in Sa- chen Suchthilfe ermöglicht ihm heute der Arbeitgeber. Kürzlich galt es, ein Kinderbuch zum Thema Sucht auf den Weg zu bringen. Und bei Doktorarbeiten konnte er auch schon Studenten mit seinem Wissen unterstützen. All das frisst nicht nur Zeit, sondern dient auch der persönlichen Weiterentwicklung, weiß Jürgen Fischer. Flexibel will er bleiben, sich nicht von Gewohnheiten blockieren lassen. Lothar Simmank MEDIEN Buchtipps Christine Dohler: Rituale. Wie sie uns im Leben stärken. Goldmann Verlag, 2021, 14 € Rituale sind so alt wie die Mensch- heit. Sie stärken und geben Halt – ge- rade in einer Zeit, in der sich das Le- ben immer mehr beschleunigt. Denn Rituale geben Orientierung und Si- cherheit. Sie stillen unser Bedürfnis nach Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Ruhe. Christine Dohler hat auf der ganzen Welt an unterschiedlichs- ten Ritualen teilgenommen und zeigt, weshalb uns eine Morgenroutine gut in den Tag starten lässt, wie wir mit kleinen Ritualen auch an einem stres- sigen Arbeitstag das innere Gefühl von Zufriedenheit bewahren. Markus Hornig: Gewohnheiten ändern. In 30 Minuten wissen Sie mehr! Gabal Verlag, 9,90 € Mehr Sport machen, endlich abneh- men oder mit dem Rauchen aufhö- ren! Wer kennt ihn nicht, den Unter- schied zwischen Theorie und Praxis, wenn es um die Umsetzung guter Vorsätze geht? Aber was hindert uns eigentlich an der Umsetzung? Routi- nen sind wichtig. Sie verschaffen uns Raum, um Ressourcen besser zu nut- zen und uns zu konzentrieren. Wenn sie jedoch blockieren und der Ent- wicklung im Weg stehen, wird es Zeit, eingefahrenen Gewohnheiten zu än- dern. In diesem Ratgeber erfahren Sie, wie Sie neue Gewohnheiten erlernen und trainieren und wie Sie Ihr Leben nachhaltig verändern können. FreundeskreisJournal | 2/2022 23

RÄTSEL 1 y a b a x p i : n e n o i t a r t s u l l I Nicht alles ist, wie es scheint Bei den drei Abbildungen auf dieser Seite handelt es sich um optische Illusionen. Unterschiedliche Menschen erkennen unterschiedliche Motive zuerst. Das liegt daran, dass unser Gehirn bekannte und gewohnte Dinge schneller identifizieren kann, als Dinge, die uns eher fremd sind. So subjektiv wie diese Abbildungen wahrge- nommen werden, wird unser gesamtes Leben subjektiv wahrgenommen. • WAS ERKENNEN SIE ZUERST? Lassen Sie es auch andere Menschen ausprobieren! Sie werden merken, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie im ersten Moment erscheinen. 2 24 3 2/2022 | FreundeskreisJournal