Die Bedeutung heute: Fundament und Kompass Auch über zwei Jahrzehnte später habe das Leitbild für viele Mitglieder eine zentrale Bedeutung – auch wenn es im Alltag nicht immer präsent sei. Barbara betont die Funktion als verbindendes Element: „Wir sind viele Gruppen, viele Landesverbände, aber unser Fundament ist dieses gemeinsame Leitbild. Je mehr kleine Einzelgruppen es gibt, desto wichtiger ist das, was uns verbindet.“ Dabei wirke das Leitbild in zwei Richtungen: nach innen als Orientierung für das eigene Handeln und nach außen als Visitenkarte. Gerade im Kontakt mit Institutionen, Förderstellen und Kooperationspartnern zeige sich die Bedeutung eines klaren Selbstverständnisses. Kalle berichtet zum Beispiel: „Wenn ich zum Bürgermeister gehe und er fragt: ‚Was ist das denn, Freundeskreise?‘, dann gebe ich ihm das Leitbild. Dann sagt er beim nächsten Mal: ‚Jetzt kann ich das ein bisschen verstehen.‘“. Auch ganz persönlich ist die Relevanz spürbar. Barbara beschreibt ihre Erfahrung nach einem Rückfall: „Ich bin in die Gruppe gekommen und es war wie Heimat. Da konnte ich reden, da hat man mich verstanden – und ich wusste damals gar nicht, dass es ein Leitbild gibt. Aber ich habe gespürt, dass da etwas gelebt wird, wo ich sein darf, wo ich nicht auf dem Prüfstand stehe.“ Weiterentwicklung mit Augenmaß: Überarbeiten, nicht neu schreiben Trotz der grundsätzlichen Zufriedenheit mit dem bestehenden Leitbild wird im Gespräch deutlich, dass eine sanfte Überarbeitung notwendig und sinnvoll sein kann. Dabei geht es nicht um einen kompletten Neustart, sondern um eine behutsame Anpassung an gesellschaftliche und sprachliche Entwicklungen. Ein Vorschlag: die Bildung einer kleinen, kompetenten Arbeitsgruppe, die das beste- hende Leitbild überprüft und punktuell moder- nisiert. „Ich würde manche Stellen heute anders formulieren“, meint Barbara. „Zum Beispiel die Formulierungen zu den Zielgruppen: Es steht noch ‚Menschen mit Problemen mit Alkohol und Medika- menten‘. Heute muss man dies breiter fassen, etwa mit Blick auf Mischkonsum oder Verhaltenssüchte.“ Auch der christliche Bezug sei nicht für alle Mitglieder der Freundeskreise vorhanden und könnte überdacht werden. Barbara schlägt etwa vor, den Begriff „Sinn des Lebens“ zu ersetzen durch: „Sinn im eigenen Leben“. Wenngleich sie selbst Mitglied der Kirche ist, wünscht sie sich eine offenere Sprache, die alle Lebensentwürfe mit einbezieht – und damit logischerweise auch mit Überschneidungen bestimmter Werte, wie dem der Nächstenliebe. Sprachlich hingegen wünscht sich Barbara, den nüchternen Ton zu erhalten. „Das darf ruhig ein bisschen ernst bleiben. Es ist schließlich unser Grundsatzpapier.“ Informationen könnten in leichter Sprache oder medial aufbereitet werden – z. B. durch QR-Codes, kurze Videos oder persönliche Erfahrungsberichte. Ergänzende Umsetzung: Ein partizipativer, aber struktu- rierter Prozess Einigkeit herrscht darüber, dass der Überarbei- tungsprozess nicht basisdemokratisch im Detail geführt werden kann, sondern eine strukturierte Rückkopplung braucht. Die Bundesdelegierten- versammlung bleibt das entscheidende Gremium. Vorschläge sollten durch eine kleine Arbeitsgruppe vorbereitet, anschließend auf Länderebene disku- tiert und dann auf Bundesebene verabschiedet werden. „Die meisten Gruppen haben gar nicht die Zeit oder das Interesse, sich tiefgehend damit zu befassen“, so Kalle. Und: „In größeren Gruppen kommt man nie auf den Punkt.“ Dennoch ist es wichtig, Transparenz und Rück- bindung zu gewährleisten – etwa durch Präsenta- tionen auf Bundeskongressen oder Berichten im Journal. Barbara schlägt vor, die einzelnen Leitbild- punkte in einer Artikelreihe lebendig zu machen: „Wie ist der Punkt entstanden, wie wird er heute gelebt?“ Auch Interviews, Comics oder Erfahrungs- berichte könnten das Leitbild greifbar machen. Fazit: Leitbild als lebendiger Begleiter Das Leitbild der Freundeskreise für Suchtkranken- hilfe war nie nur ein strategisches Dokument – es war und ist Ausdruck gemeinsamer Werte, Identität und gelebter Hilfe zur Selbsthilfe. Es ist Ergebnis eines intensiven, historischen Prozesses – aber zugleich ein lebendiger Kompass, der immer wieder auf den Prüfstand gehört. Nicht, weil es seine Gültigkeit verloren hat, sondern weil sich Sprache, Gesell- schaft und Selbsthilfe weiterentwickeln. Wenn das Leitbild lebendig bleibt, bleibt auch die Gemein- schaft lebendig. Denn, wie Kalle es zusammenfasst: „Fünf Personen, fünf Wege – aber wenn man seinen gefunden hat, dann ist es der richtige. Das Leitbild ist unser gemeinsamer Nenner, von dem aus viele Wege aus der Sucht möglich sind.“ Das Interview zeigt eindrucksvoll, wieviel Herzblut und Engagement in der Entwicklung des Leitbildes der Freundeskreise steckt. Es wurde als zentraler Identitätsanker geschaffen, der Gruppen verbindet und nach außen eine klare Haltung zeigt. Das Leitbild hat sich bewährt. Es ist jedoch an der Zeit, es punktuell sprachlich und inhaltlich zu überprüfen, ohne es grundsätzlich zu verändern. Eine behutsame Anpassung durch eine kompetente Arbeitsgruppe, ergänzt durch moderne Kommu- nikationsmittel und lebensnahe Beispiele, wären wünschenswert. Die zentrale Botschaft bleibt: Jeder Mensch hat seinen eigenen Weg aus der Sucht – und im Freundeskreis findet er Verständnis, Begleitung und eine wertschätzende Gemein- schaft. Das Leitbild bildet dafür den stabilen, gemeinsamen Boden. Interview von Silja Michels, Suchtreferentin 5 1 T F N U K U Z R U Z T N E M A D N U F M O V